Die Platte macht’s
Das Nationalparkzentrum „Haus der Berge“erreicht dank besondere Holzwerkstoffplatten große DeckenspannweitenDas Nationalparkzentrum „Haus der Berge“ ist ein Vorzeigeobjekt für regionales und nachhaltiges Bauen. Die Ausstellungsbereiche erforderten zum Teil große Deckenspannweiten. Hier hat eine besondere Holzwerkstoffplatte zusammen mit Beton als Verbundkonstruktion alle statischen und planerischen Anforderungen erfüllt.
Berchtesgaden ist international bekannt für seine Naturschönheiten und großartigen Landschaften, darunter der Königssee und der Watzmann; hinzu kommt eine reiche Kulturgeschichte sowie Deutschlands einziger alpiner Nationalpark. Das Ganze bereichert nun eine weitere, neue Attraktion: Das „Haus der Berge“ – ein Zentrum für Naturerlebnis, ökologische Information und Umweltbildung. Als „grünes Klassenzimmer“ soll es mehr sein als nur ein Museum. Am 24. Mai 2013 wurde das Nationalparkzentrum eröffnet.
Bergskulptur in Großvitrine
Die Architektur des Hauses der Berge ist eng verzahnt mit der Ausstellungsgestaltung. Die so genannte „Bergvitrine“, ein aufgesetzter Kubus mit verglasten Fronten und einer im Inneren begehbaren Bergskulptur, ist Hauptattraktion der Ausstellung und gibt eine wichtige gestalterische Linie für die Architektur des etwa 100 m langen Hauptgebäudes vor.
Besonderes Augenmerk legten die Planer auf Bauökologie und Klimaschutz, so dass sie vor allem heimische Baustoffe wie Stein und Holz verwendet haben. Während für die erdberührenden Bauteile vor allem Stahlbeton und Steine in Frage kamen, sollte für die weitere Konstruktion der tragenden Wände und Decken Holz genutzt werden.
Die Ausschreibungsunterlagen enthielten in der detaillierten Ausführungsplanung die Vorgaben für die tragende Decke über dem Erdgeschoss als Holz-Beton-Verbund-Konstruktion. Vom Tragwerksplaner erforderten die besonderen Anforderungen jedoch außergewöhnliches konstruktives Wissen und kreatives Denken. Denn die für öffentliche Gebäude anzusetzende Verkehrslast von 5 kN/m² war in Kombination mit großen Spannweiten und hohen Schallschutzanforderungen eine anspruchsvolle Aufgabenstellung, für die es eine nicht alltägliche Lösung zu finden galt.
Die Planer hatten bereits gute Erfahrungen mit Holz-Beton-Verbund-Konstruktionen gemacht und entschieden sich auch hier für diese Hybridbauweise, denn sie ermöglicht trotz großer Spannweiten geringe Deckenstärken, die einfache Herstellung einer aussteifenden Scheibe und eine gute Querverteilung der Lasten.
Hochtragfähige Holzwerkstoffplatten
Von allen Decken im Gebäude stellte die Geschossdecke über dem EG um die Bergvitrine herum die größte Herausforderung dar. Hier mussten nicht nur Spannweiten bis zu 16 m überbrückt, sondern auch die Lasten aus der Bergvitrine aufgenommen werden. Dies erforderte die Einbindung einer Stahlträgerkonstruktion in der Decke auf den Achslinien der Kubuswände.
Eine derartige Größenordnung an aufzunehmenden Lasten war mit üblichen Holzwerkstoffplatten zur Herstellung der Holzbalkendecke als Tragschalung der Holz-Beton-Verbund-Konstruktion nicht mehr zu bewerkstelligen.
Den Tragwerksplanern kam bei der Suche nach einer Alternative die Verfügbarkeit einer hochtragfähigen Holzwerkstoffplatte mit bauaufsichtlicher Zulassung zu Hilfe: Mit der speziellen OSB-Platte „EUROSTRAND OSB 4 TOP (Z-9.1-566)“ ließen sich in einer Materialstärke von 40 mm alle statischen Anforderungen erfüllen. Gleichzeitig waren die Platten mit einer maximalen Breite von 2,50 m verfügbar. Das erlaubte die werkseitige Vorfertigung großer Deckenelemente und bei der Montage eine große Zeitersparnis.
Die Decke über dem EG hat außer der Funktion einer Geschossdecke in großen Bereichen – dort, wo das OG zurückspringt – auch die Funktion einer Dachdecke. Da die Materialkombination dieser Holz-Beton-Verbund-Konstruktion auch unter Witterungsbeanspruchungen eingesetzt werden kann, war dies ein weiterer Grund, sie zu wählen.
OSB-Platte mit Beton verzahnt
Zur Herstellung der Holz-Beton-Verbund-Decke wurden die OSB-Platten werkseitig zunächst über eine Schraubpressverklebung mit je vier Brettschicht(BS)-Holz-Trägern (b/h = 20-28 cm x 44 cm) zu 2,50 m breiten und bis zu 16 m langen Pi-Platten-Elementen verbunden. Dies unter Berücksichtigung einer Überhöhung, um der Durchbiegung nach dem Betonieren und dem Effekt des Kriechens des Betons entgegenzuwirken.
Zur Herstellung des erforderlichen Verbunds zwischen Holz und Beton erhielten die OSB-Platten nach Vorgaben der Tragwerksplaner auf der Oberseite Schrauben sowie 10 cm breite und 2 cm tiefe Einfräsungen, sogenannte Kerben. Nach der Montage und dem Betonieren vor Ort verzahnt sich der Beton mit der Platte und den Schrauben.
Statisch betrachtet bildet sich im Hinblick auf den Kräfteverlauf in diesem Verbund eine Art Fachwerk aus. Dabei bildet die Betonplatte den Obergurt und die Pi-Platte aus Holz den Untergurt, die Schrauben stellen die Zugpfosten dar. Die Übertragung der Druckkräfte zwischen Ober- und Untergurt verläuft im Beton entlang einer gedachten Diagonale – entsprechend der Fachwerkanalogie sind dies die Druckdiagonalen.
Die Kerben sind quer zu den BS-Holz-Trägern angeordnet, so dass sich bei Belastung der Decke die Betonstreifen in den Kerben mit diesen verkanten. Durch das Zusammenspiel kann die Betonplatte große Kräfte aufnehmen, und die zu übertragenden Kräfte in den Schrauben fallen kleiner aus, was im Vergleich mit anderen Holz-Beton-Verbund-Konstruktionen auch für einen geringeren Schraubenbedarf sorgt.
Die Abstände der Kerben und Schrauben resultieren aus der beschriebenen Fachwerkanalogie. Sie ändern sich natürlich je nach abzutragenden Lasten.
Die besondere Eigenschaft der „Eurostrand OSB 4 Top“ lag außerdem darin, dass sie die Schub- und Druckspannungen, die in der Platte entstehen, wenn der Beton bei Belastungen gegen die Kerben drückt, ohne weiteres aufnehmen und abtragen kann. Somit war auch die Querverteilung der Lasten insbesondere aus der Bergvitrine gewährleistet.
Am Beispiel dieser zentralen Decke im „Haus der Berge“ zeigt sich, dass es sich lohnen kann, neben Standard-Platten Bauprodukte mit optimierten und in einer Zulassung geregelten Eigenschaften zu nutzen.
Autorin
Dipl.-Ing. (FH) Susanne Jacob-Freitag ist freie Journalistin und Inhaberin des Redaktionsbüro manuScriptur in Karlsruhe.
Die Hybridbauweise ermöglichte trotz großer Spannweiten geringe Deckenstärken
Bautafel (Auswahl)
Objekt Nationalparkzentrum „Haus der Berge“
Bauherr Freistaat Bayern – Bayerisches Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit, vertreten durch das Staatliche Bauamt Traunstein
Entwurf Staatliches Bauamt Traunstein
Ausführungsplanung Leitenbacher Spiegelberger Architekten BDA, 83278 Traunstein
Tragwerksplanung Seeberger Friedl & Partner, 94469 Deggendorf/Pfarrkirchen
Objektüberwachung Karl Sollerer Bauleitungsbüro, 84559 Kraiburg a. Inn
Holzbau-Unternehmen Müllerblaustein Holzbau GmbH, 89134 Blaustein
OSB Egger Holzwerkstoffe Wismar GmbH & Co. KG, 23970 Wismar