Eignet sich Reet für den hochalpinen Bereich?
Im Sommer 2019 machte sich ein kleines Team aus erfahrenen Reetdachdeckern von Berlin aus auf den Weg in die Alpen, um das Dach und die Fassade eines Holzhauses mit Reet einzudecken. Das Forschungsprojekt „SkinOver Reet“ soll zeigen, ob Reetdeckungen für den hochalpinen Bereich geeignet sind.
Nur bis etwa 1200 m Höhe lässt sich der Weg zur Mannheimer Hütte (Rätikon/Zentralalpen) mit dem Auto zurücklegen. Danach geht es zu Fuß weiter. Auf dem letzten Stück folgt ein anstrengender Aufstieg über eine etwa 800 m hohe Felswand. An einen normalen Transport von Handwerkern und Baumaterialien in knapp 2600 m Höhe war hier nicht zu denken. Der Berliner Reetdachdecker Marco Weichert und sein Team (https://www.reetdach-berlin.de) fuhren also früh morgens in einer offenen Transportseilbahn, oder besser gesagt in einem großen Kasten sitzend, zu ihrer Arbeitsstätte. Baumaterial, das nicht in die Seilbahn passte, wurde mit dem Hubschrauber geliefert, so auch das Reet. So gestaltete sich die tägliche Arbeit in luftiger Höhe für die Reetdachdecker in den Alpen. Ihr Arbeitsplatz war der Bau eines Technikgebäudes nahe der Mannheimer Hütte in 2600 m Höhe. Für Marco Weichert von der Weichert Dachbau GmbH und sein Team war es ein Einsatz im Dienste der Wissenschaft. Das Projekt „SkinOver Reet“ war aus einer Lehrveranstaltung des Instituts für Baustofflehre, Bauphysik, Gebäudetechnologie und Entwerfen (IBBTE) der Universität Stuttgart hervorgegangen.
Kooperation der Uni Stuttgart mit dem Alpenverein
Die Vorbereitung des Projekts lief über mehrere Jahre. Das IBBTE arbeitet seit 2015 mit dem Bundesverband des Deutschen Alpenvereins (DAV / Ressort Hütten und Wege) zusammen. Im Vorfeld des Projekts wurden bereits Entwürfe von Berghütten betreut und Ökobilanzen gerechnet. Ziel des Projektes mit den Reetdachdeckern ist es, die Eignung von Reet für die Verwendung im hochalpinen Bereich zu erforschen. Das Material und die architektonisch und handwerklich abgestimmten Details sollten im Vordergrund stehen. Die Einbindung von erfahrenen Reetdachdeckern in den Entwurf war somit grundlegend und wichtig für die Entwicklung der materialgerechten Details. Während des Entwurfs der Hütte kam immer wieder die Frage auf, welche Materialien an der Fassade und am Dach als Bekleidung eingesetzt werden könnten. Es wurden Ökobilanzen für die vier Baumaterialien Holz, Reet, Metall und Mauerwerk erstellt. Dadurch konnten die Forscher erkennen, wie gut Reet in diesem Vergleich dastehen würde, erklärt Anke Wollbrink, Sachverständige für nachhaltiges Bauen und akademische Mitarbeiterin am IBBTE. Es folgte eine intensive Auseinandersetzung mit den Potentialen des natürlichen Baustoffs Reet. „Zudem sahen wir, dass Reet bereits in moderner Architektur in Deutschland, Dänemark, Schweden, den Niederlanden und Frankreich eingesetzt wird“, so Wollbrink, „in England gibt es außerdem interessante Ansätze zur Vorfertigung von Fassadenplatten aus Stroh.“ Doch es sollte nicht bei der theoretischen Betrachtung bleiben. „Um die Anwendung von Reet im alpinen Bereich an Dach und Fassade zu testen, bekamen wir über den Bundesverband des DAV den Kontakt zur Sektion Mannheim des Deutschen Alpenvereins“, sagt Anke Wollbrink. Ein neu gebautes Wasserhäuschen zur Trinkwasserversorgung der Mannheimer Hütte in den Zentralalpen musste verkleidet werden. „Dieses Objekt bot sich in Größe und Standort als Forschungsprojekt ideal an“, sagt Wollbrink.
Kleines Haus in Holzbauweise
Das Gebäude war somit gefunden und das Projekt startete mit dem Ziel, die Eignung von Reet im hochalpinen Bereich zu untersuchen. Das kleine Technikhäuschen in Holzbauweise war dafür ideal. „Weil es direkt am Ende des Leibersteigs liegt, haben wir auf der mit lokalem Lärchenholz verkleideten Giebelseite eine Sitzstufe für Wanderer eingeplant, die den Zugang zum Gebäude ermöglicht“, sagt Anke Wollbrink. Das Reet, das die Hülle auf dem Dach und an der Fassade bildet, ist auch in dieser Nische in der Giebelseite präsent.
Zukunftsperspektiven für den Klimaschutz
Der Leitgedanke des Projektes rankte sich um die Frage, wie man die bestehenden Klimaziele erreichen kann. Mit welchen Materialien sollte man in Zukunft im hochalpinen Bereich bauen? Welche alternativen Materialien sind dazu neben Holz, Metall und Mauerwerk geeignet? Für Bauunternehmen stellt sich die Frage, welche Vorteile reetgedeckte Häuser bieten und ob sich das Naturprodukt im Alpenbereich noch stärker für klimaschutzrelevante Projekte einsetzen lässt als bisher. Denn Reet als traditionelles Baumaterial für den Hausbau bietet hier großes Potential. Abgesehen vom Transport verläuft die Prozesskette der Reetgewinnung mit minimalem Arbeits- und Energieaufwand. In der Gewinnung des Reets für Dach und Fassade enstehen kaum Emissionen.
Materialien stammten aus der Region
Die Hütte wurde aus Nadelholz aus der Region und fast ausschließlich mit traditionellen Holzverbindungen von der Zimmerei Josef Müller aus Brand erstellt. Die Verkleidung des Giebels besteht aus Lärchenholz. Das verwendete Reet für Dach und Fassade der Hütte stammte in diesem Fall nicht aus Rumänien, der Türkei oder China, sondern vom Neusiedler See, dem einzigen Reetanbaugebiet in Österreich.
Schilfgras, auch bekannt unter der Bezeichnung Reet, wächst schnell, bildet ein wertvolles Biotop, sorgt für eine bessere Wasserqualität und bietet vielen Tieren ein Zuhause. Nur der abgestorbene Teil des Reets wird geerntet und ohne weitere Behandlung oder Zusätze als Baustoff für Dächer und Fassaden verwendet. Nach der Verwendung auf dem Gebäude kann altes Schilfgras kompostiert und wieder in den Stoffkreislauf zurückgeführt werden. Schilfgras ist ein im klassischen Sinne nachhaltiger, nachwachsender Rohstoff und bietet sich damit als alternatives Material für Dach- und Fassadenbekleidungen an. Weitere Vorteile sind das schnelle Wachstum, die kurze Prozesskette mit geringem Energieverbrauch und Emissionen, die Schadstofffreiheit und die über Generationen erprobte Anwendung.
Teil zwei des Projekts folgt im Sommer 2020
Im Sommer diesen Jahres wird sich ein Team der Universität Stuttgart erneut auf den Weg zur Berghütte machen und nachsehen, wie die kleine Hütte und das Reet den Wettereinflüssen getrotzt haben. Sorge um das Reet besteht nicht, weil Reetdächer Wind und Wetter normalerweise über Jahrzehnte trotzen. Dennoch sind alle Projektbeteiligten gespannt, wie sich die extremen Bedingungen in den Alpen auf das Reet auswirken werden. Es werden Untersuchungen und Aufnahmen vor Ort stattfinden, die die Eignung des Materials und der Konstruktion nach dem ersten Winter dokumentieren werden. Zusätzlich sollen Geräte zur Feuchtemessung eingesetzt werden. In den folgenden zwei Jahren sollen so weitere Erkenntnisse zur Eignung und Alterung des Materials gewonnen werden.
AutorUlrich Krumstroh ist freier Journalist und Inhaber der Agentur Elbfaktor in Trittau.