An die Kehle gegangen

Altdeutsche Deckung bei Sanierungsarbeiten am Dach des Aachener Doms

Die Altdeutsche Deckung gilt als die Mutter aller Schieferdächer. Der Mittelrhein und das Rheinland sind die letzten Regionen, in denen Dachdeckerfirmen ansässig sind, die diese traditionelle Verlegetechnik ausführen. Auch bei der Sanierung des Aachener Doms wurde die Altdeutsche Schieferdeckung verlegt.

Eifel, Westerwald, Hunsrück und Taunus bilden zusammen das rheinische Schiefergebirge. Genau in deren Mitte, zwischen Mayen und Koblenz, finden sich die letzten Bergwerke, wo Dachschiefer unter Tage abgebaut wird, zum Beispiel bei einem der weltweit führenden Schieferproduzenten Rathscheck (für Dach- und Wandschiefer). Tatsächlich waren in früheren Jahrhunderten Schiefersteinbrüche in dem Landstrich zwischen Köln und Mainz weit verbreitet und Dächer mit Schieferbedeckung die Regel. Und auch  Deutschlandweit gibt es eine große Anzahl von bemerkenswerten Schieferdächern aus vergangenen Tagen, die es zu erhalten gilt. Denn vor allem im Denkmalbereich sind Schieferdeckungen verbreitet.

Das Dach der Nikolauskapelle am Aachener Dom zählt dazu. Es hat auch nach der Sanierung seine altdeutsche Schiefereindeckung behalten. Vor allem ein großer Erfahrungsschatz ist bei der Verlegung wichtig, das bestätigt auch der ausführende Dachdeckermeister Ralf Krings: „Schieferarbeiten beruhen auf Erfahrungswerten, gerade in der Denkmalpflege.“ Es gebe auch kein perfektes Einheitsdach, sagt Krings und betont, dass die Schönheit von Schieferdächern sehr unterschiedlich bewertet werden könne. „Es gibt aber so etwas wie Handschriften. Ein geübtes Auge kann den verantwortlichen Meister, oder zumindest eine Art ‚Schule‘ erkennen“, erklärt Krings.

Am First kleine Steine, zur Traufe hin größere

„Markant für eine altdeutsche Deckung ist die Abnahme der Gebinde“, führt er aus. Einen fragenden Blick quittiert er mit einem Lächeln und erklärt: „Den Schiefer, dessen einzelne Tafeln wir als Dachstein bezeichnen, nageln wir zeilenweise von der Traufe bis zum First auf der Schalung fest. Diese Zeilen nennen wir Gebinde und deren jeweilige Höhe nimmt von unten nach oben allmählich ab. Die Steine variieren auch in der Breite: Mittig in der Fläche sind sie schmaler als am Ortgang.“

Grund dafür ist die Witterung. Zur Traufe hin nimmt die Menge des abfließenden Regenwassers stark zu, daher muss es hier vornehmlich dicht sein. Am First hingegen überwiegt die Windkraft. Hier empfehlen sich kleinere Steine, die weniger Angriffsfläche bieten und fester angenagelt sind. Grundsätzlich wird jeder Stein mit drei Nägeln fixiert, und das bedeutet: kleinerer Stein, kleinere Fläche, dadurch mehr Halt. Zum Ortgang hin ist es andersherum. Hier werden die Steine größer, vor allem um eine möglichst gleichmäßige Dachkante zu erzielen.

Die Schulen unterscheiden sich in der Dynamik des horizontalen und vertikalen Steigungsverhältnisses, mit welchen Techniken man auf Unregelmäßigkeiten, wie etwa Dachgauben, reagiert sowie in der Anlage der so genannten Gebindesteigung. Als Gebindesteigung bezeichnet man die Neigung der Dachsteinzeilen, die mitnichten horizontal angelegt sind. Diese abfallende Linie dient der Entlastung der Rücken der Schiefersteine. Man muss sich die Steine annähernd als ein Parallelogramm vorstellen, deren eine aufsteigende Diagonallinie gerade ist, während sich die andere segelartig nach außen beult. Die gerade Diagonalkante bezeichnet man als den Steinrücken.

Drei Hiebe

Es gibt drei unterschiedlich steile Abschlagwinkel, mit denen ein Dachdecker diese Diagonalkanten in eine rohe Schieferplatte hauen kann, um daraus einen brauchbaren Dachstein zu formen: Den scharfen Hieb, den normalen Hieb und den stumpfen Hieb. Grundsätzlich kann man sagen, dass man mit einem scharfen Hieb einen schmaleren Stein mit steileren Kanten erhält und ein stumpfer Hieb zu breiteren Deckungselementen mit stärker geneigten und gewölbten Kanten führt. Der scharfe wie auch der normale Hieb sind besonders gut geeignet, um steile und dreidimensional sehr anspruchsvolle Dächer, wie etwa Turmspitzen, zu bedecken. Sie erfordern freilich mehr Material. Mit dem stumpfen Hieb kann man hingegen gut in die Fläche gehen. Der normale Hieb ist die pragmatische Lösung dazwischen.

Die hohe Kunst für einen Dachdecker besteht darin, die Dachsteine in der Reihenfolge zu verarbeiten, wie sie von der Palette kommen. Schiefer ist ein Naturprodukt. Daher gleicht kein Stein dem anderen, und auch die vom Werk angelieferten Rohlinge weisen gewisse Größenunterschiede auf. Ziel ist es aber, eine homogen erscheinende Dachfläche zu erzielen, bei der man aus der Distanz heraus bewusst keine die Fläche gliedernde Linienstrukturen wahrnimmt.

Die Kurve kriegen

Eine besondere Herausforderung für einen Dachdecker ist das Einbinden von Gauben in die Dachfläche, insbesondere das Anlegen der vermittelnden Hohlkehlen zwischen den seitlichen Gaubenwangen und der geneigten Dachfläche. Hier bringt der Dachdecker zunächst eine flache Grunddeckung auf der Wange auf. Auch die Dachfläche schiefert er bis unmittelbar vor der Gaube ein. Die noch offene Eckfuge schließt er mit Dachpappe und einer Schweißbahn und schlägt darauf über die gesamte Länge ein Kehlbrett an. Dieses wird noch einmal mit einer Trennlage aus Bitumen kaschiert, um es ebenfalls sicher vor Feuchtigkeit, insbesondere vor Flugschnee zu schützen.

Das Kehlbrett dient zum Unterfüttern. Der 90° Winkel zwischen der Gaubenwange und der Dachfläche muss „gebrochen“ werden. Es ist letztlich die tragende Unterkonstruktion, auf der die fächerförmig in der Kehle angeschlagenen Dachsteine festgenagelt werden. Für das Schließen eines solchen Kehlwinkels mit Schiefer werden aufgrund der engen Radien die Dachsteine vorzugsweise mit einem scharfen Hieb zugeschlagen.

Direkt in der Dachkehle legt der Dachdecker folglich zwei Schieferschichten unmittelbar übereinander an. Natürlich muss er die obere Schicht in die Dachfläche einbinden, nachdem er damit die „Kurve gekriegt hat“. Dachdecker nennen dieses Verzahnen eine ausgehende oder fliehende Kehldeckung. Hierfür werden die Steine der Hauptdachfläche nur leicht angehoben und die Endsteine der Kehldeckung nachträglich untergeschoben. Optisch müssen diese Übergänge stimmig erscheinen. Eine Dachsteinzeile, die abrupt endet und als sogenanntes „totlaufen“ bezeichnet wird, gilt als unschön.

Spenglerarbeiten

Die Firma Krings Bedachungen aus Baesweiler war an der Nikolauskapelle nicht nur für das Verschiefern des Daches zuständig. Die Mitarbeiter von Ralf Krings waren auch mit den Metallanbauten beauftragt. So montierten sie entlang der Traufe eine fünfteilige Regenrinne, deren Einzelteile sie in traditioneller Technik miteinander vernieteten und verlöteten. „Fünfteilig“ ist ein Längenmass für Rinnen. Es bezieht sich auf die handelsübliche Länge von 2 m und teilt diese durch fünf. An der Nikolauskapelle sind also Rinnensegmente von 40 cm Länge verbaut worden.

Oberhalb der Traufe montierten die Handwerker zudem einen Schneefang in Form eines schwarz lackierten Aluminiumrohres, mit 10 cm Durchmesser. Das Detail orientiert sich an Rundhölzern, die hierfür im süddeutschen Raum oft verwendet werden. Holz schied jedoch witterungsbedingt aus, denn in Aachen regnet es zu viel. Grundsätzlich wären auch die ebenso üblichen Schneefangbretter geeignet gewesen. Aus rein ästhetischen Gründen fiel die Entscheidung jedoch auf die schwarzen Rohre.

Die Spitze aufgesetzt

Dachdeckermeister Krings betont, dass ein Dachdecker in mehreren Gewerken geübt sein muss. So ist es etwa völlig undenkbar, dass ein Zimmermann für ihn die Kehlbretter zuschneidet. Eine solche individuelle Maßanfertigung sollte aus einer Hand kommen. Auch ein Metallbauer müsse man mitunter sein. Dabei zeigt Krings auf eine zierliche Dachspitze aus Metall. „Diese müssen wir jetzt gleich noch anbringen. Auf jeder Gaube wird so eine Spitze angebracht!“

Autor

Dipl.-Ing. Robert Mehl studierte Architektur an der RWTH ­Aachen. Er ist als Architekturfotograf und Fachjournalist tätig.

„Bei Schiefer gibt es kein perfektes Einheitsdach, aber es gibt eine `Handschrift`“

Das Gaubeneinbinden gehört zur großen Herausforderung bei der Schieferdeckung

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